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Bedingungsloses Grundeinkommen:
ein Impuls für persönlichen und gesellschaftlichen Wandel?­­

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Letzten Monat habe ich eine Lesung von Christof besucht. In der anschließenden Fragerunde bemerkte eine Besucherin sinngemäß, dass es Mut brauche, um innezuhalten, den eigenen Lebenskurs zu hinterfragen und eventuell die Richtung zu ändern. Ich empfinde das ähnlich: Jeder Mensch, der will, muss bei sich selbst beginnen, und das Erforschen und Reifen des Wandelwunschs scheint Herzenskraft, Geduld und Muße zu brauchen. Mal geschieht die Veränderung wie von selbst; Leichtigkeit und Vertrauen weisen den Weg, und alles scheint im Fluss zu sein. Dann wieder kostet es Überwindung, es passieren „Rückschläge“, und Zweifel kommen auf. Ich glaube, die Mut-Frage ist nicht zuletzt deswegen so groß, weil der Spielraum für die eigene Lebensgestaltung auch von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beeinflusst wird: Sie können es uns erleichtern oder erschweren, Altes loszulassen und neue, vielleicht stimmigere Wege zu gehen. Als ich die Bemerkung der Frau in der Lesung hörte, kam mir daher das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) in den Sinn; eine alte weltumspannende Idee, die gerade die gesellschaftliche Diskussion aufmischt.

Von Dorothea Gruß, Jena - 30.05.2018
 

"Wir sollen uns einreihen in die Verwertungsgesellschaft, im Wettbewerb 'funktionieren' und monetär nützlich sein – was auch immer das bedeuten und seinerseits kosten mag."

Das Grundklima in unserem Land ist – bei allen gegenläufigen Trends – immer noch sehr von Leistungs- und Statusdenken sowie vom Glauben an Wirtschaftswachstum geprägt (Economy first!). Die „Dreifaltigkeit“ aus Erwerbsarbeit, Geldverdienen und Konsum ist Norm, Selbstzweck oder gar Heilsbringer. Damit einher gehen Existenz- bzw. Abstiegsangst, Zwang und Konkurrenz sowie (Angst vor) Stigmatisierung und Gängelung bei sogenannter Arbeitslosigkeit.   Die mehr oder weniger subtile Botschaft

dieser institutionalisierten Lieblosigkeit lautet: Wir sollen uns einreihen in die Verwertungsgesellschaft, im Wettbewerb „funktionieren“ und monetär nützlich sein – was auch immer das bedeuten und seinerseits kosten mag. Ergo dreht sich fast alles um die Arbeit, sie dient dem Lebensunterhalt, dem Zeitvertreib, der Identitätsstiftung oder gar der Selbstverwirklichung. Dabei sind wir in materieller Hinsicht längst übersättigt, gleichzeitig klagen wir über zu viel Stress und zu wenig Zeit, fühlen uns rastlos, erschöpft und überfordert – das Hamsterrad lässt grüßen. Wer oder was uns dabei eigentlich auf den Fersen ist, ob wir irgendwann irgendwo ankommen und ob ein solcher Wettlauf eine gute Basis für eine zufriedene, solidarische und zukunftsfähige Gesellschaft sein kann, ist fraglich. Die Kluft zwischen Arm und Reich, aber auch die zwischen Performern/Funktionierern, Ausgebrannten, Abgehängten, Aussteigern und Utopisten scheint jedenfalls immer größer zu werden. Vielleicht kann das BGE eine Art Brücke sein, die uns daran erinnert, dass wir – bei aller Vielfalt und Individualität – eine Gesellschaft und eine Menschheit sind? Warum also organisieren wir unser Zusammenleben nicht anders? So, dass es mehr um uns Menschen und unser Wohlbefinden geht? So, dass die Wirtschaft uns dient und nicht umgekehrt? So, dass wir in erster Linie mit- und füreinander leben und leisten statt gegen- oder nebeneinander? So, dass gilt: People first!

Vielleicht ist jetzt, im 21. Jahrhundert, die Zeit reif für eine neue Art von Wohlstand bzw. Wohlbefinden. Und damit für ein neues Paradigma: (Grund-)Einkommen und Arbeit voneinander zu entkoppeln und den Fokus von permanentem materiellem Wachstum auf mehr „immaterielle Wertschöpfung“ zu lenken, zum Beispiel auf Entschleunigung, Muße, Genügsamkeit, Miteinander, Verant-wortung, Offenheit, Empathie, freie Bildung, Kreativität oder auch auf Innerlichkeit und Spiritualität. Oder schlicht auf eine bessere Balance zu achten: Was haben wir im Überfluss, und was fehlt uns, als Einzelne und als Gesellschaft? Einen solchen Kulturwandel finde ich sehr

"Warum also organisieren wir unser Zusammenleben nicht anders? So, dass es mehr um uns Menschen und unser Wohlbefinden geht? So, dass die Wirtschaft uns dient und nicht umgekehrt?"

wünschenswert und angesichts der sozialen und ökologischen Herausforderungen dieser Welt auch dringend notwendig. Das BGE könnte dabei wertvollen gesellschaftspolitischen Auftrieb geben, indem es – gemäß Artikel 1 unseres Grundgesetzes und der UN-Menschenrechtserklärung – den Menschen in den Mittelpunkt rückt und spannende Fragen stellt: Muss ich mir meinen Wert erst verdienen? Was sind meine Bedürfnisse, und was für ein Leben finde ich lebenswert? Welche Werte will ich hier eigentlich schöpfen, mit meinem Sein und Tun? Wie wollen wir miteinander umgehen? Und welche Art von Wachstum und „Fortschritt“ können wir uns überhaupt noch erlauben, wenn diese Welt auch noch für unsere Enkel ein lebenswerter Ort sein soll? Antworten darauf zu suchen erfordert wahrscheinlich weiterhin persönlichen Mut, innere Bereitschaft und Neugier – aber die gesellschaftlichen Vorzeichen wären mit einem BGE ganz andere als heute.

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"Welche Potenziale werden frei, welche neue Lust auf Engagement kann aufkommen, wenn Menschen aktiv werden dürfen, nicht müssen? Wenn Zutrauen und Vertrauen zum Normalfall werden, statt naiv oder verrückt zu wirken?"

Wie viel bunter, entspannter und fruchtbarer könnte ein solches Klima sein? Ich stelle mir zum Beispiel eine Gesellschaft vor, in der uns Maschinen noch mehr Arbeit als bisher abnehmen, ohne dass an deren Stelle unsinnige neue Jobs gesetzt werden, nur weil Menschen irgendwie Geld verdienen müssen und um jeden Preis konsumieren sollen. In der bestimmte Arbeiten bewusst nicht an Roboter delegiert werden, weil es nämlich schöner ist, von Menschen gepflegt, bewirtet oder unterrichtet zu werden. In der die verbleibende Arbeit flexibler und auf mehr Schultern verteilt wird. Und in der wir endlich die Möglichkeit haben, „Arbeit“ weiter zu definieren, zum Beispiel als selbstbestimmtes, sinnvolles, menschenzugewandtes und im weitesten Sinne kreatives Tätigsein, das durch eine materielle Grundabsicherung erst richtig ermöglicht wird.

Welche Potenziale werden frei, welche neue Lust auf Engagement ­kann aufkommen, wenn Menschen aktiv werden dürfen, nicht müssen? Wenn Zutrauen und Vertrauen zum Normalfall werden, statt naiv oder verrückt zu wirken? In einem solchen Klima wäre Platz für eine Fülle von Lebensweisen, für vielfältiges Tun und Nichtstun. Faulheit aus Rebellion oder Resignation dürfte dann weniger werden; Müßiggang im Sinne von Lebenskunst könnte mehr Raum bekommen. Denn gehört es nicht auch zum Wesen des Menschen, öfter mal in den Zauber des Augenblicks einzutauchen, einfach da zu sein und still zu staunen?

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Was ist das Bedingungslose Grundeinkommen?

Das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) versteht sich als Impuls für eine humanistische, freiheitlich-demokratische Gesellschaft. Jeder fest in Deutschland (bzw. in Land X) lebende Mensch erhält monatlich vom Staat, also von der Gemeinschaft, ein Grundeinkommen – man könnte sagen, wir gönnen uns gegenseitig einen fairen Anteil am Gesamtwohlstand der Gesellschaft und erkennen an, dass wir in unseren Grundbedürfnissen alle gleich sind. Der Betrag könnte zwischen 1000 und 1500 Euro liegen und dient der „Spielteilnahme“; er sichert unsere materielle Existenz und gesellschaftliche Teilhabe ab, auf soziale und liberale Weise. So können wir in Würde Mensch sein und uns auf unsere eigene Art einbringen, durch unbezahlte und/oder bezahlte Tätigkeiten, auf einem dann freien Markt. Das BGE ist bedingungslos, d. h., jeder Mensch bekommt es (egal ob jung oder alt, arm oder reich, erwerbstätig oder erwerbslos), es gibt keine Prüfung auf Bedürftigkeit und keinen Zwang zu Arbeit oder sonstigen Gegenleistungen.


Wer soll das bezahlen?

Finanziert ist das BGE im Prinzip schon heute, denn unsere hochproduktive und materiell reiche Gesellschaft stellt genügend Güter und Dienstleistungen für alle her – Geld ist ja nichts anderes als deren Gegenwert. Durch ein BGE würden z. B. folgende Leistungen eingespart bzw. umverteilt: Arbeitslosengeld I und II, Wohngeld, Bafög und Kindergeld; Kosten für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (1-Euro-Jobs, ineffektive Weiterbildungen); Verwaltungskosten, z. B. in den Jobcentern; Subventionen unrentabler oder schädlicher Wirtschaftsbereiche zwecks bloßer Arbeitsplatz- oder Wettbewerbssicherung; Steuerfreibetrag; Renten bis zur Höhe des BGE; Gehälter und Pensionen aller Beamten und staatlich Angestellten in Politik, Bildung, Sozialwesen, Rechtswesen, Militär, Verwaltung usw. bis zur Höhe des BGE. Gleichzeitig müssen neue/andere Steuern für eine fairere Verteilung der erwirtschafteten Geldmenge sorgen und das Gemeinwohl besser berücksichtigen als heute. Denkbar sind z. B. Finanztransaktionssteuern, Robotersteuern, Luxussteuern, Ökosteuern oder eine reine Konsumsteuer.

Nähere Informationen finden sich z. B. auf der Website des Netzwerk Grundeinkommen.

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Zuerst erschienen in: Verlorene Gedanken, Nr. 3/2018

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