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Zeitenwende / Dann halt umso mehr lieben
Leben in Zeiten von Donald Trump

Von Christof Jauernig - 14.02.2017
 

Die Zeitenwende hat sich langsam zusammengebraut. Immer mehr verstörende Worte der Wut und des Hasses sind durch den Äther gekrochen, durch die Netzwerke und über die Sender, und haben einen aschgrauen Film aus Hässlichkeit über alles gelegt. Wie kalter Rauch, der sich in Zeitlupe ausbreitet. Wir haben fassungslos auf die Bildschirme gestarrt und gehofft, dass es nochmal gut gehen würde, aber ist es nicht. Und jetzt ist sie da, seit dem 20. Januar 2017, die neue Zeit, für alle sichtbar, erbarmungslos kompromisslos. Der so genannte mächtigste Mensch der Erde ist ab jetzt ein Synonym für zerstörerische Wut, herzlose Verachtung, schamlose Unwahrheit und eitle Selbstsucht. Bewusstlos der Macht verfallen, der Blick sinnentleert, scheinbar abgespalten von empathischen Gefühlen, gefährlich, um sich schlagend, als ließe sich so die eigene Belanglosigkeit vergessen. Den Preis dafür zahlen wir alle, manche von uns einen höheren, und vielleicht auch die, die nach uns kommen werden. Und es sieht so aus, als würden sie von nun an täglich in die Welt fließen: gewaltvolle Ströme in Worte und Taten gefassten Hasses. Wahrscheinlich werden sie ihresgleichen suchen, den Hass und die Angst der Wütenden und Enttäuschten, die an vielen Orten dieser Welt warten, um mit ihnen in Resonanz zu gehen. Und die vereinigte Hass-Angst wird für sich beanspruchen, die neue Welt zu sein.

Die sie nicht sind.

 

Die Welt, zumindest ihre Menschheit, also wir, entscheidet jede Sekunde aufs Neue, was sie will. Und darin liegt vielleicht die Chance, die uns jeder schmutzige Tweet, jede würdelose Pressekonferenz, jeder niveaulose Wutausbruch und jedes gewaltvolle Dekret ab jetzt vor Augen führen kann:

 

Endlich wieder und wieder nicht mehr übersehen und überhören zu können, wie wir NICHT SEIN WOLLEN.

 

Und daraus die Kraft und Entschlossenheit zu schöpfen, so zu werden, wie wir SEIN WOLLEN. Wie wir wollen, dass die Welt ist.

 

Wenn also ab jetzt der mächtigste Mensch der Welt, wenn ab jetzt der Hass und die Wut, die Lüge und Verleugnung, die Abwertung, die Gefühlskälte und Spaltung, die Engstirnigkeit und die Angst für sich das Hoheitsrecht beanspruchen, nur, weil sie laut sind,…

Dann halt umso mehr lieben!

 

Aus vollem Herzen. Jeden Tag aufs Neue. Nach der Liebe schauen in jedem Gesicht, in jedem Blick, in jedem Baum, jedem Sonnenuntergang. Nach ihr hören in jedem Lachen, in jedem Vogelgesang, jedem Stück Musik. Die Liebe im Innern spüren, in jeder Faser des Körpers. Nie die Verbindung zu ihr verlieren, gerade dann, wenn die Angst gekrochen kommt. Liebe geben. Echte Liebe. Versuchen, sie in jedes Wort zu legen. Strahlen vor Liebe, immer wieder, so gut es geht.

Dann halt umso ehrlicher sein!

 

Die Wahrheit umarmen und sie hüten wie ein kostbares G­­emälde. Ehrlich sein gegenüber anderen, und ehrlich gegenüber sich selbst. Wahrhaftig sein. Sich keine Wahrheiten zurechtbiegen. Informiert sein, um Wahrheiten so gut wie möglich erkennen zu können, und um in der Lage zu sein, die Grautöne zwischen dem Schwarzweiß wahrzunehmen. Wahrheiten aussprechen und verteidigen, wo immer es nötig ist.

 

Und sich Wahrheiten eingestehen, auch schmerzhafte. Zum Beispiel, dass diese Welt in einer sozialen, politischen und ökologischen Schieflage ist, für die mehrheitlich weiße, westliche Gesellschaften die historische Verantwortung tragen – mit all‘ ihren Konsequenzen, zum Beispiel der so genannten Flüchtlingskrise. Sich eingestehen, dass es ein „Weiter so“ nicht geben wird.

 

Dann halt umso unvoreingenommener sein!

 

Mitmenschen vorurteilsfrei begegnen, sie nicht abwerten. Sie in ihrer Essenz wahrnehmen, und nicht anhand von Labeln oder den eigenen Schubladen im Kopf. Hinter die Fassaden schauen, um dort die Tiefe und den Reichtum zu erkennen. Sich selbst im Anderen erkennen.

 

Sich selbst vorurteilsfrei begegnen, sich nicht abwerten. Sich in seiner Essenz wahrnehmen, und nicht anhand von Labeln oder den eigenen Schubladen im Kopf. Hinter die eigene Fassade schauen, um dort die Tiefe und den Reichtum zu erkennen. Sich selbst erkennen.

Dann halt umso empathischer und solidarischer sein!

 

Sich nicht spalten lassen, von niemandem.

 

Nie vergessen, dass wir eine Menschheit sind, mit den ziemlich gleichen Wünschen und Träumen, nämlich denen nach Unversehrtheit, Glück, Frieden und… na klar, Liebe. Sich trotzdem bewusst sein, dass es Menschen unter uns gibt, für die Bedrohung schon immer weitaus realer war und es jetzt umso mehr ist, als für die meisten von uns. Zum Beispiel, weil sie eine andere Hautfarbe oder sexuelle Orientierung haben als die Mehrheitsgesellschaft. Solidarisch sein und Einschreiten im Angesicht von Diskriminierung. Die Stimme erheben. Stellung beziehen, wenn der Ton vergiftet wird, wenn der kalte Rauch beginnt, sich der Worte zu bemächtigen. Am Arbeitsplatz, in den sozialen Netzwerken, egal wo. Auf die Straße gehen, wenn es nötig ist. Aber dem Hass nie mit Hass antworten, weil ihn das nur verdoppeln würde.

Dann halt umso visionärer sein!

 

An Träumen und Visionen festhalten und neue entstehen lassen, mehr denn je. Auf ihre Kraft, sich zu verwirklichen, vertrauen. Visionen nicht aus dem Blick verlieren. Sich den Glauben an eine bessere Welt nicht nehmen lassen.

Dann halt umso furchtloser sein!

 

Sich nicht einfangen, nicht lähmen lassen von der Angst. Nie vergessen, was ein früherer amerikanischer Präsident gesagt hat, dass das Einzige, was wir zu fürchten haben, die Furcht selbst ist. Und wenn sie doch kommt, die Zukunftsangst, versuchen, sich fest im gegenwärtigen Moment zu verwurzeln. Meditation oder Achtsamkeitspraxis, In-Verbindung-Gehen mit der Natur können dabei helfen.

 

Die Unvorhersehbarkeit, die größer geworden zu sein scheint, in Wahrheit aber schon immer groß war, akzeptieren. Nicht gegen sie ankämpfen. Mit ihr Freundschaft schließen.

 

Und wenn das Leben schon unvorhersehbarer geworden ist:

 

Dann halt umso mehr leben!

 

Sich klarwerden, dass das Leben JETZT kostbar ist. Dass hauptsächlich für eine komfortable Zukunft zu leben und zu arbeiten, die Erfüllung aller Träume in die Zukunft zu verschieben, in Zeiten größerer Unvorhersehbarkeit noch fragwürdiger wird. Mit sich selbst und dem Leben in Verbindung gehen. Fragen an das eigene Leben stellen und offen sein für die Antworten. Sich neu erfinden, wenn nötig. Keine Zeit mehr vertun.

 

Vieles spricht dafür, dass unsere Welt ein unsicheres, dunkles Kapitel betreten hat. Vielleicht ist das wirklich eine Zeitenwende. Doch wenn es draußen dunkel wird, werden die Lichter, die wir in unserem Innern anzünden, umso notwendiger sein. Und umso heller scheinen.

 

Vielleicht werden sie zu den Samen, aus denen am Ende eine Zeitenwende wird, die ganz anders ist, als es jetzt den Anschein hat.

Wetzlar (am Morgen nach Donald Trumps Amtseinführung)

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Zuerst erschienen in: Verlorene Gedanken, Nr. 2/2017

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