Gedanken verloren | Unthinking
Eine Aufbruchsgeschichte – in Worten, Fotografien, Pianoklängen
Christof Jauernig ist Betriebswirt und arbeitet seit vielen Jahren in Frankfurt am Main als Analyst in einer Unternehmensberatung für Banken, als ihm schleichend die innere Verbindung zu seinem kopflastigen Job und dem rauen, gewinnorientierten Arbeitsumfeld abhandenkommt. Was er tut, erscheint ihm nur noch sinnlos. Den Mut, sich von seinem ihm fremd gewordenen Beruf und dem täglichen Lauf im Hamsterrad zu verabschieden, fasst er jedoch erst, als seine inneren Widerstände übergroß geworden sind. Bald darauf bricht er zu einer sechsmonatigen Rucksackreise durch Südostasien auf – ohne Plan für danach. Sie führt ihn, entlang zauberhafter Natur und eindrucksvoller Begegnungen, in eine neue Verbindung mit der Welt, zurück zu sich selbst, und immer weiter hinaus aus dem Gedankenkarussell, hinein in die Fülle des jetzigen Augenblicks.
Jetzt nimmt er seine Gäste mit auf diese Rucksacktour, aber auch auf seinen inneren Weg, heraus aus der Sinnkrise. Zu einer großen Auswahl projizierter Reisefotografien rezitiert er Texte, die unterwegs entstanden sind. Sie erzählen von seiner Reise, aber ebenso vom Hören auf die innere Stimme, dem Ausbrechen aus ungesunden Routinen, der Entmachtung von Intellekt und Wertung, der Wiederentdeckung der von Analyse und Bewertung ungetrübten Schönheit der Welt, und davon, jeden Moment zu würdigen. Es entfaltet sich eine Melange aus Fotografien, erzählten Reiseszenen und lyrischen Stimmungsbildern, untermalt von seinen eigens hierfür eingespielten Piano-Improvisationen. Ein stimmungsvoller, höchstpersönlicher Abend, der zum Innehalten einlädt und von einer ausführlichen Fragerunde abgerundet wird.
Eintausendmal Lebensglück
CHRISTOF
JAUERNIG
Herzenssache
Was will ich eigentlich?
Die Welt hat sich verändert. Es ist nicht mehr zu übersehen. Angefangen hat es irgendwie schleichend und auf mehreren Ebenen. Das Tempo zog an, am Arbeitsplatz gab es plötzlich neue Technologien, vieles ließ sich jetzt schneller erledigen. Und während manche Aufgaben so einfacher wurden, hielt unversehens eine neue Rastlosigkeit Einzug. Auch außerhalb der Arbeitswelt wurde vieles anders. Irgendwann hielten wir diese neuen Wunderdinger in den Händen, Smartphones. Mit ihnen ließ sich auf einmal eine Menge schnell und unterhaltsam regeln, im Blick behalten, kennenlernen. Neue Freunde über virtuelle Netzwerke, am anderen Ende der Welt. Aber irgendwie hatten sie auch die Fähigkeit, uns in ihren Bann zu ziehen, und alte Freunde, Erwachsene wie Kinder, die am gleichen Tisch saßen, sprachen plötzlich weniger miteinander, jeder den Blick in seinem Display versenkt.
Irgendwann kam die Finanz- und Wirtschaftskrise und verstärkte für viele von uns den Druck am Arbeitsplatz. Eine gesunde Balance zu erhalten zwischen Job und Familie wurde schwieriger, Leistung war gefordert, der Begriff „Burnout“ machte öfter die Runde. Die Eurokrise kam und verschwand wieder aus unserem Blickfeld, aber die niedrigen Sparzinsen ließ sie uns zurück, und mit ihnen die Unsicherheit, ob die private Altersvorsorge, die wir einstmals so erwartungsvoll begonnen hatten, später überhaupt ausreichen würde. Immer mehr haben wir realisiert, wie stark in dieser Welt alles miteinander zusammenhängt, erst nannten wir das „Globalisierung“, aber jetzt sind es bislang entfernte Krisen und Konflikte, die näherkommen. Die Folgen der sozialen Schieflage der Welt und des Unfriedens, der vielerorts herrscht, haben unsere Haustüre erreicht, sichtbar durch die flüchtenden Menschen, die die gefährliche Reise zu uns auf sich nehmen. Gleichzeitig geraten scheinbar stabile Strukturen ins Wanken, der Zusammenhalt Europas bröckelt, Nationalisten erhalten Auftrieb und sind stets bemüht, unsere Ängste zu schüren. Dabei wird es immer schwieriger, richtig von falsch zu unterscheiden. Selbst der sogenannte mächtigste Mensch der Welt hat die Lüge zum Mittel seiner Politik erhoben. Und man kann nicht einmal mehr sagen, ob er so viele Konfliktherde befeuert, weil er es will, oder weil er es nicht anders kann.
Von Christof Jauernig, Frankfurt - 24.08.2017
"Es ist, als wäre das Gefühl der Verlässlichkeit abhandengekommen. Der Berechenbarkeit, der Kontrollierbarkeit unseres Lebens."
Und zwischen alledem stehen wir, und wissen kaum mehr, wie uns geschieht. Es ist, als wäre das Gefühl der Verlässlichkeit abhandengekommen. Der Berechenbarkeit, der Kontrollierbarkeit unseres Lebens. Und das Tempo, in dem dieses Leben vonstatten geht, lässt uns kaum dazu kommen, uns zu fragen, wo wir eigentlich stehen in diesem Sturm, in dem es manchmal aus allen Richtungen gleichzeitig zu blasen scheint.
Es ist jedoch genau eine solche Zeit, eine des Umbruchs, der Verwirrungen, der Orientierungslosigkeit und der hohen Geschwindigkeiten, die wir als Aufforderung verstehen können an uns selber, innezuhalten, um uns die Fragen nach dem Sinn neu zu stellen. Uns wieder bewusst zu machen, was wirklich wichtig ist für unser Leben. Denn auch, wenn wir uns den Sturm nicht ausgesucht haben: wie wir in ihm die Segel setzen, das kontrollieren wir. Und ebenso, ob wir die Route ändern, ruhigere Gefilde ansteuern, oder sogar die Segel einholen möchten, um an einem Ort zu verweilen, der windgeschützter ist, der vielleicht besser zu uns passt, als unser ursprüngliches Reiseziel – im übertragenen Sinn gesprochen. Denn wo die Zukunft, auf die wir immer so viel ausgerichtet, für die wir immer geplant haben, heute so unvorhersehbar erscheint, da lohnt es sich umso mehr, den Blick auf die Gegenwart zu richten, und sich zu fragen, wie es jetzt gelingen kann, zufriedener zu sein und das Leben lebenswerter zu machen.
Alle Fotos: C. Jauernig | Bei Sapa, nördliches Vietnam
winden, dem für viele unangenehmen Thema vielleicht nicht weiter aus dem Weg zu gehen, wissen abernicht, wie viel wert unsere Altersvorsorge am Ende wirklich sein wird. Ein gutes Einkommen beruhigt uns, ist aber oft mit Stress und persönlichen Kompromissen bei dessen Erzielung verbunden. Und sind es nicht vielleicht gerade diese, die unserem Glück gefühlt gerade im Wege stehen?
So führt nichts daran vorbei: Es gibt keine einfachen Antworten, und was uns wirklich wichtig ist, kann so vielfältig sein, wie Menschen es sind. Und um es wahrhaftig herauszufinden, müssen wir tief in uns hineinspüren. Tiefer, als wir es täten, wenn wir nur wieder die berühmten Plus- und Minus-Listen schrieben, mit Argumenten, die für und gegen bestimmte Entscheidungen, bestimmte Zielsetzungen sprechen, um dann am Ende dasjenige zu wählen, bei dem laut unserer Berechnung die Pluspunkte am meisten überwiegen. Stattdessen können wir versuchen, Verbindung aufzunehmen mit demjenigen in uns, das tiefer liegt und oft weiser ist, als jedes rationale Abwägen: Unsere Intuition, unsere „innere Stimme“, die sehr gut weiß, was uns guttut und was nicht, was uns fehlt, was wir uns wünschen oder erträumen, die spürt, wofür wir gemacht sind, wofür wir „brennen“, in einem positiven Sinn. Eine Stimme, die jedoch oft übertönt wird vom Alltagslärm, von den täglichen Routinen, von der eigenen Angst vor Veränderung, die uns davon abhalten können, innere Wahrheiten und Wünsche wahr- und ernst zu nehmen.
Ein Zugangsweg zu dieser inneren Wahrheit ist, buchstäblich unser eigenes Herz zu fragen, ungefiltert von Abwägungen und Ängsten, die unser Verstand so gerne beisteuern will. Dafür suchen wir uns einen ruhigen Ort, zu dem wir unsere Ahnungen, Impulse und Ideen dazu, was wir in unserem Leben verändern, neu ausrichten, neu beginnen, oder beenden könnten oder sollten, mitnehmen.
Während wir versuchen, eine solche mögliche Veränderung, beispielsweise die Vorstellung, nicht mehr in der Großstadt, sondern auf dem Land zu wohnen, oder den Berufszweig zu wechseln, intensiv vor dem inneren Auge zu visualisieren, lassen wir unsere Aufmerksamkeit in den Bereich von Brust und Herz sinken, und konzentrieren uns auf das Gefühl, das dort im Innern entsteht.
Die Empfindungen, die wir beobachten, benennen wir mittels einfacher Begriffspaare, ohne sie zu bewerten: Entsteht ein Gefühl von Weite oder Enge? Von Wärme oder Kälte? Fühlt es sich weich dort an oder verhärtet? Verdunkelt oder hell? Wird das Herz leicht oder schwer? Zunächst wird es vielleicht ein wenig dauern, bis wir klar empfinden. Aber mit etwas Übung können wir Sicherheit darin entwickeln, die Antworten unserer Intuition auf mögliche Lebensentscheidungen zu lesen. Und derweil wir währenddessen unseren Intellekt außen vorlassen, kann er uns im Anschluss wieder gute Dienste dabei leisten, Wege zur Umsetzbarkeit der „gefühlt richtigen“ Entscheidungen zu erdenken und zu überprüfen.
Vielleicht ist es die Entscheidung, wieder mehr in Erlebnisse zu investieren, anstatt in Dinge, von denen sich zuhause ohnehin schon zu viele stapeln. Zum Beispiel regelmäßig zu sparen für die Reise an diesen besonderen Ort, nach der wir schon so lange Sehnsucht haben, weil wir uns dort so seltsam hingezogen fühlen. An die sich später zu erinnern uns vielleicht viel mehr und länger etwas geben wird, als alle die Anschaffungen, mit denen wir uns regelmäßig für den Alltagsstress zu entschädigen versuchen. Oder es ist der Impuls, endlich wieder alte Freundschaften zu beleben oder neue zu schließen, mehr Zeit zu schaffen für schöne gemeinsame Erlebnisse mit dem Partner oder mit der besten Freundin, die zuletzt genauso nur noch hinter ihren Arbeitsbergen verschwunden war, wie wir selbst.
"Um wahrhaftig herauszufinden, was uns wirklich wichtig ist, müssen wir tief in uns hineinspüren. Tiefer, als wir es täten, wenn wir nur wieder die berühmten Plus- und Minus-Listen schrieben."
Und wer etwas verändern will im Großen, für den ist es beruhigend, damit nicht allein zu sein. Wir können uns Alliierte suchen, uns zusammentun, gemeinsam stark sein. Dafür gibt es schon eindrucksvolle Beispiele. Wie etwa die nach schwedischem Vorbild gegründete Facebookgruppe #ichbinhier, in der sich seit Ende 2016 Zehntausende Menschen zusammengeschlossen haben, um den überbordenden Hasskommentaren im Internet in respektvoller, sachlicher Sprache Positives entgegen zu setzen.
Oder die etwa gleichzeitig entstandene Bürgerinitiative Pulse of Europe, in der Monat für Monat in Dutzenden europäischen Städten Jung und Alt für den Erhalt des europäischen Gedankens gemeinsam, friedlich und fröhlich auf die Straße geht. Die Liste der Bewegungen und Initiativen, über die man sich einmischen kann, ist lang.
"So kann uns die Suche nach unseren persönlichen Herzensangelegenheiten letztlich zu neuen Ankerpunkten in unserem Leben führen, die (...) Ruhepunkte sind in einer Zeit, die weiter stürmisch ist."
Und so kann es, abhängig von unserer Lebenssituation, eine große Vielfalt von Ideen, Plänen oder Entscheidungen sein, denen wir auf den Grund gehen können, zu ermessen versuchen können, was sie uns bedeuten und ob sie wirklich zu uns passen. Vielleicht sind es kleine Weichenstellungen, die dabei helfen, in unserer hektischen Alltagswelt das Tempo zu reduzieren: Der regelmäßige kleine Spaziergang im Park in der Mittagspause oder über die Felder nach Feierabend, morgens etwas früher aufzustehen, um genügend Zeit für ein Frühstück in Ruhe zu haben und der Sonne beim Aufgehen zuzusehen, sich endlich zum Achtsamkeits- oder Yogakurs anzumelden.
Doch wie finden wir den Sinn? Wie können wir herausfinden, was wichtig für unser Leben ist? Wir können Studien lesen darüber, was Menschen, allgemein gesprochen, glücklich macht. Gute Gesundheit, ein sicherer Arbeitsplatz, ein lieber Mensch an seiner Seite, ein Leben frei von finanziellen Sorgen, das alles sind Dinge, die dort, wenig überraschend, auf den vorderen Plätzen stehen. Doch einiges davon ist eben gerade von der Natur, dass es äußeren Einflüssen unterworfen ist, die gerade jetzt sehr in Bewegung sind. Die Sicherheit unseres Arbeitsplatzes: wir können sie uns wünschen und dafür arbeiten, sie langfristig vorhersehen immer weniger. Die finanzielle Sicherheit, vor allem auch später im Ruhestand: wir können sorgsam dafür planen, uns dazu über-
"Es ist jedoch genau eine solche Zeit, eine des Umbruchs, der Verwirrungen, der Orientierungslosigkeit und der hohen Geschwindigkeiten, die wir als Aufforderung verstehen können an uns selber, innezuhalten, um uns die Fragen nach dem Sinn neu zu stellen."
Und wo es eben die digitalisierte Welt ist, die unmerklich die Schlagzahl unseres Lebens erhöht hat, nicht ohne gleichzeitig, ähnlich einem Schleier, immer mehr zwischen uns und dem zu stehen, was man „Lebendigkeit“ nennen könnte: Möglicherweise steht es ja an, mal wieder in Ruhe in dem alten Laden an der Ecke nach Büchern zu stöbern, in dem die Sonne immer so schön durch die Fenster auf die verstaubten Regale fällt, anstatt stets nur im Internet, per Mausklick. Oder das Smartphone einfach mal zuhause zu lassen, wenn wir uns mit Freunden treffen im Café.
Ja, die Welt ist bewegt und im Umbruch, und vieles dabei entzieht sich unserem Einfluss und kann uns beunruhigen. Aber machtlos sind wir nicht, und wenn wir wieder mehr wissen, was uns wichtig ist, wohin unser Herzblut fließen will, gibt uns das Energie, Dinge in unserem Sinne zu gestalten. Und dann entscheiden wir uns vielleicht für die neue Ausbildung, den neuen Job, in dem wir wieder mehr Erfüllung finden, zum Beispiel, weil wir wissen, dass wir Gutes bewirken für die Welt. Dann beschließen wir vielleicht, nebenbei ehrenamtlich zu arbeiten, weil wir erkannt haben, wie glücklich es uns macht, andere Menschen glücklich zu machen. Oder wir füllen endlich den Antrag für den Kontowechsel zu einer nachhaltigen Bank aus, der schon so lange auf dem Schreibtisch liegt, weil wir endlich sicher sein wollen, dass unser Geld, wenn wir schon keine Zinsen mehr dafür bekommen, wenigstens Kindergärten und Wohnprojekte finanziert, anstatt Kernenergie und Waffen. Und wir fällen die Entscheidungen jetzt, weil wir spüren, dass für ein Abwarten in dieser sich verändernden, unabsehbar gewordenen Welt die Zeit zu schade ist.
So kann uns die Suche nach unseren persönlichen Herzensangelegenheiten letztlich zu neuen Ankerpunkten in unserem Leben führen, kleinen und großen, die uns Halt und Orientierung geben. Und damit Ruhepunkte sind in einer Zeit, die weiter stürmisch ist. Gewiss, die Unvorhersehbarkeit dieser Zeit wird dennoch bestehen bleiben. Deshalb kann es uns helfen, die Unsicherheit akzeptieren zu lernen, ihr nicht mehr mit Widerstand zu begegnen. Sich nicht zu verbeißen in den Unwägbarkeiten einer Zukunft, die wir nicht kennen können.
Und stattdessen Freundschaft zu schließen mit unserem persönlichen, gegenwärtigen Augenblick, der meist alles andere als unwägbar ist. Den wir vielmehr bewusst formen und mit Sinn versehen können. Entschleunigen können, wenn wir das wirklich wollen. Bewusst wahrnehmen können: Den Moment, in dem wir Schritt um Schritt im Schatten der Bäume auf dem weichen Waldweg laufen, alle Sinne offen. In dem wir einem Kind beim verträumten Spielen zuschauen. Oder der Augenblick, in dem wir die Nachrichten abschalten, die Gedanken zur Ruhe kommen lassen, und dem Wind zuhören, oder unserem eigenen Atem.
Ein solcher Moment lässt keinen Raum für Angst. Dann sind wir wirklich mit dem Leben verbunden, und zugleich mit uns selbst.
Und darauf kommt es doch eigentlich an.